Zwischen tradierter Lebenswelt und industrieller Moderne

Das erste Objekt im Freilichtmuseum Kommern

Was steht am Beginn einer Museumssammlung? Vielleicht ein herausragendes Einzelstück von besonders hohem Wert? Ein Objekt, mit viel Prestige und Strahlkraft, dass eine einzigartige Bedeutung für das Museum besitzt? Im LVR-Freilichtmuseum Kommern wirkt das allererste Objekt mit der charakteristischen Inventarnummer 1958/1 auf den ersten Blick eher etwas unscheinbar. Es handelt sich um einen Holzstuhl aus der Eifel, vermutlich aus dem 19. Jahrhundert. Seine aus geschnitzten und durchbrochenen Horizontalstegen bestehende Rückenlehne sowie seine an den oberen Abschlüssen zu Köpfen gestalteten Stuhlbeine lassen vermuten, dass er zum Inventar eines nicht ganz unvermögenden Bauern gehörte. Auch wenn wir keine weiteren Informationen und Hintergründe über diesen Stuhl besitzen, „erzählt“ er viel über den damaligen Zeitgeist und über die Idee einer als Notwendig erkannten Museumsgründung.

Der Stuhl als erstes Objekt im Museum wird bei der Ausstellung zum 60-jährigen Jubiläum prominent als Museumsschatz präsentiert.

Der Stuhl stammt nicht aus dem Vorbesitz einer der Museumsgründer oder wurde dem Museum von einem Bewohner der unmittelbaren Umgebung geschenkt oder verkauft. Erworben wurde das Objekt im März 1958 beim renommierten und noch heute weltbekannten Auktionshaus Lempertz in Köln. Ein Indiz, dass Stühle dieser Art bereits zu dieser Zeit rar waren und von einer Epoche kündeten, die in fast allen Regionen des Rheinlandes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Voranschreiten des Wirtschaftswunders unweigerlich der Vergangenheit angehörte.

Die Landwirtschaft erlebte eine radikale Modernisierung. Vielerorts trennte man sich von den teilweise über Jahrzehnte verwendeten bäuerlichen Handgeräten und ersetzte Pferdegespanne durch Traktoren. Gerade viele kleinere Höfe konnten den damit verbundenen Kostendruck nicht tragen. Etliche landwirtschaftliche Höfe gaben ihre Betriebe auf, die freigesetzten Arbeitskräfte fanden oftmals in den boomenden Industriezweigen der „Wirtschaftswunderjahre“ ein neues Betätigungsfeld.

Zeichnung des Stuhls
Zeichnung des Stuhls zu Dokumentationszwecken

Mit dem flächendeckenden Rückgang tradierter bäuerlicher Arbeitsweisen und der Zunahme moderner industrieller Arbeitsfelder mit höheren Löhnen und Gehältern entwickelte sich stetig eine differenzierte und individualisierte Gesellschaftsstruktur. Auch in der Wohnkultur mit ihren neuartigen und vielfältigen Möbel- und Accessoireangeboten spiegeln sich diese sozialen Entwicklungszüge wider. So erobern etwa in den 1950er-Jahren Dreieck- und Nierentische sowie Cocktailsessel viele Wohnstuben und bringen mit ihrer völlig neuartigen Formgestaltung die Modernität ihrer Besitzer zum Ausdruck.

Tradiertes, ländliches Mobiliar ist zu dieser Zeit bereits aus vielen Bauernhäusern und Höfen „entsorgt“ worden. Gerade junge Familien, deren Eltern selbst noch oft in der Landwirtschaft tätig waren, und die selbst in den aufkeimenden Industriezweigen ihr Lohn und Brot verdienten, verbanden mit den alten Möbeln Rückständigkeit und Provinzialität.

Zeichnung des Stuhls
Karteikarte zum Stuhl

Aus der Sorge heraus, dass viele über Jahrzehnte, mitunter über Jahrhunderte, gepflegte Zeugnisse der ländlich-bäuerlichen Wohn-, Lebens- und Arbeitswelt im Rheinland unweigerlich der Zerstörung und Vergessenheit anheimfallen, entstand die Idee der Gründung eines Freilichtmuseums. Über den Stuhl mit der Inventarnummer 1958/1 hinaus finden sich deshalb auf den Sammlungskarteikarten der ersten Jahre und Jahrzehnte viele weitere Möbel sowie hauswirtschaftliche, landwirtschaftliche und handwerkliche Objekte der vormaligen rheinischen Agrargesellschaft.

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