Wie kaum ein anderes Kleidungsstück prägten Matrosenanzug und Matrosenkleid die Kindermode des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie bestimmten Jahrzehnte lang nicht nur in Deutschland, sondern in großen Teilen Europas die Bekleidung der Kleinsten.[1]
Im Zeitalter der Aufklärung wurde auf die spezifischen kindlichen Bedürfnisse an Kleidung verwiesen und so forderten Pädagogen und Mediziner eine lockere und leichte Garderobe für Kinder, die sich von der der Älteren und Erwachsenen unterscheiden sollte. Reifröcke oder enge Kniebundhosen sollten gegen leichte Hemden oder Kittel mit weiten Armen getauscht werden. Im 18. Jahrhundert fanden diese Forderungen in der bürgerlichen Oberschicht Anklang. Bis sie in der breiten Masse umgesetzt wurden, sollte noch einige Zeit vergehen.[2] Erst um 1900 bildete sich eine eigenständige Kinderkleidung heraus.

Foto: LVR-Freilichtmuseum Kommern, Hans-Theo Gerhards
Ein Kind im Matrosenanzug sorgt für Aufsehen
1846 wurde der Maler Franz Xaver Winterhalter beauftragt, ein Gemälde vom fünfjährigen Prinzen von Wales, dem späteren König Edward VII, im maßgeschneiderten Matrosenanzug anzufertigen. Und auch der spätere Kaiser Wilhelm II., wurde 1862/63 in einer langen weißen Hose, gleichfarbigem Hemd mit hellblauem Einsatz, Manschettenknöpfen sowie schwarzem Halstuch und flachem Hut abgelichtet.
Reproduktionen dieser Bilder führten zu einer schnellen Beliebtheit und Verbreitung des Matrosenstils.[3]

Gemälde von Franz Xaver Winterhalter (1846). Gemeinfrei, Royal Collection RCIN 404873.
Der Matrosenanzug war zu Beginn ein Kleidungsstück für wohlhabende Jungen. Für die Mädchen gab es ab 1880 eine Matrosenbluse und einen Faltenrock. Auch junge Damen trugen gerne einen Matrosenkragen zum Tennis. Nach 1900 wurden auch Arbeiterkinder in einfach gefertigte Matrosenanzüge[4] zu Anlässen wie Sonntagsspaziergängen oder auf Fotografien gekleidet.[5]

Foto: Archiv des Alltags im Rheinland/LVR
Politisch aufgeladen
Den Höhepunkt seiner Beliebtheit erlangte der Matrosenanzug in Deutschland um 1880, „[…] als wilhelminische Großmachtträume und der damit verbundene Aufbau einer deutschen Flotte den englischen Marinestil auch hierzulande populär machten.“[6] Wurden bis zu diesem Zeitpunkt englische Matrosenanzüge der Firmen «Nelson» oder von «Kopenhagener Matrosenhabit» gekauft, trat mit der Ernennung Kiels zum deutschen Kriegshafen das Modell der Kieler Matrosenanzüge seinen Siegeszug an.
Beliebt waren u. a. Anzüge der Firma «Bleyle». Das Stuttgarter Unternehmen fertigte ab 1890 Matrosenanzüge aus besonders strapazierfähigen Stoffen, die auch für die Mittelschicht erschwinglich waren.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es zu einer weiteren patriotischen Aufladung des Kleidungsstückes.[7] „Platz für politische Manifestationen bot das Band an der Schirmmütze und der Knoten am Schlips“[8]. Meist fand sich hier die Aufschrift von Namen erfolgreicher Schlachtschiffe.

Foto: LVR-Freilichtmuseum Kommern, Hans-Theo Gerhards
Der Matrosenanzug nach 1933
Die Assoziation des Kleidungsstücks mit der Kindheit löste sich erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf. Sie lehnten den Anzug als „bürgerlich-reaktionär“[9] ab und forderten stattdessen uniformähnliche „Bundestrachten“ [10] für Kinder und Jugendliche.
Auch heute ist der Matrosenanzug noch immer nicht vollständig aus der Mode verschwunden. Accessoires oder Teile der beliebten Kinderkleidung aus der Kaiserzeit sind auch heute noch zu finden. So treten beispielsweise die Wiener Sängerknaben seit 1924 im Matrosenanzug auf. Auch die Schuluniform an vielen japanischen Privatschulen orientiert sich nach wie vor an den Uniformen der britischen Royal Navy.
[1] Vgl. Zander-Seidel, Jutta: Kleiderwechsel. Frauen-, Männer und Kinderkleidung des 18. bis 20. Jahrhunderts, Nürnberg 2002. S. 132.
[2] Vgl. ebd., S. 131.
[3] Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Kindheit. Frankfurt am Main 1979. S. 127.
[4] Vgl. Von Rauchbauern, Judith: Kleidung gestern und heute. München 1995. S. 48.
[5] Vgl. Weber-Kellermann 1979, S. 128.
[6] Zander-Seidel 2002, S. 132.
[7] Vgl. ebd., S. 181.
[8] Selheim, Claudia: Der Matrosenanzug für Kinder: Vom Gesinnungskleid zum Massenartikel. In: Monika Ständecke: Aus der Lieb zum Gebirg: Trachtenverein im Allgäu, Kronenburg-Illerbeuren 2005, S. 113-115, hier 113.
[9] Weber-Kellermann 1979, S. 130.
[10] Vgl. Zander-Seidel 2002, S. 181.