Kirchen aus dem Katalog – Otto Bartning und das Notkirchenprogramm

Infolge des Zweiten Weltkriegs galten im April 1945 mehr als ein Drittel aller evangelischen Kirchen als unbenutzbar. Vielerorts fanden die Gottesdienste in provisorischen Räumlichkeiten statt. Ziel des im August 1945 gegründeten Hilfswerks der Evangelischen Kirchen in Deutschland (HEKD) war es unter anderem, das physische Defizit an architektonisch und liturgisch würdevollen Kirchenräumen zu minimieren.

Die Aufgabe zur Ausarbeitung eines „Notkirchenprogramms“ übertrug man 1946 an den Bauhaus-Ideengeber Otto Bartning (1883-1959). Die Kirchen sollten kostengünstig in Serie herzustellende Typenbauten sein, bei deren Bau die entsprechende Notkirchengemeinde mithelfen konnte. Vor allem der stetige und innovative Einsatz neuer Bautechnologien qualifizierte Bartning für die anspruchsvolle Bauaufgabe. Bereits 1928 setzte Bartning Materialien und Techniken aus dem modernen Industriebau für die Kölner Stahlkirche ein.

rostfarbene große Kirche mit hohen Fenstern
Die Stahlkirche auf der PRESSA, 1928
Foto: Hugo Schmölz

Finanziert wurde das so genannte „Notkirchenprogramm“ vor allem durch internationale Kirchenorganisationen, wie dem „Weltrat der Kirchen“, dem „Lutherischen Weltbund“, der „Evangelical and Reformed Church“ (USA), der „Presbyterian Church“ (USA) und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Auf der Grundlage der Stiftungen konnten für alle vier Besatzungszonen zunächst 48 beantragte, „große“ Notkirchen bewilligt werden. Im weiteren Verlauf des Notkirchenprogramms entwickelte Bartning schließlich die kleineren, multifunktionalen Typenmodelle „Gemeindezentrum“ und „Diasporakapelle“. Bei der 2019 im LVR-Freilichtmuseum Kommern eröffneten Notkirche aus Overath von 1951 handelt es sich um den Typ „Diasporakapelle“.

Karte Deutschlands mit eingezeichneten Standorten der Notkirchen
Karte der geplanten 48 Notkirchen, Gemeindezentren und Diasporakapellen, 1952
Abb.: Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Bauabteilung Neckarsteinach (Hg.): Die 48 Notkirchen. Heidelberg 1949

Die großen Notkirchen – Typ „A“ und „B“

Zunächst entwickelte Bartning und sein Team in der „Bauabteilung Neckarsteinach des HEKD“ zwei Notkirchentypen, die vor allem völlig oder teilzerstörte Kirchen ersetzen sollten. In „ingenieursmäßiger sparsamer Ausführung“ wurden industriell gefertigte Brettbinder als Dreigelenk-Nagelbinder („Typ B“), Pfetten, Dachtafeln, Emporen, Gestühl, Fenster und Türen aus Holz zur Montage am Bauplatz vorgefertigt. Die Notkirchen „Typ B“ konnten mit drei verschiedenen Chorlösungen realisiert werden. Für „Typ A“ entwickelten Otto Bartning und Emil Staudacher über einem rechteckigen Grundriss eine Konstruktion mit geschweiften Bindern.

Innenraum der Kirche mit Bänken und riesigem Gewölbe
Matthäuskirche in Darmstadt, Notkirche Typ B mit polygonalem Altarraum, Wände aus Trümmersplitbetonsteinen, 2019 Foto: Jürgen Schreiter

Die Umfassungsmauern, zum Teil auch Füllungen zwischen den Bindern, hatten keine statische Funktion und sollten vor allem mit Trümmersteinen ausgeführt werden. So konnte der individuelle Gestaltungswille der bauenden Kirchengemeinden berücksichtigt und ein Zitat mit Erinnerungsfunktion an die Wiederaufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzt werden.

Kirchen aus dem Katalog – „Gemeindezentrum und Diasporakapelle“

Durch den Zuzug vertriebener evangelischer Christen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bildeten sich viele neue evangelische Gemeinden in vormals rein katholischen Gebieten. Durch eine Weiterentwicklung des Notkirchenprogramms sollte gerade diesen sich neuformierenden Gemeinden mit zwei neuen Typenkirchen geholfen werden. Da die Gemeinden nicht auf vorhandene Grundstrukturen eines Vorgängerbaus zurückgreifen konnten, wurden die neuen Typen als multifunktionale „Komplettlösungen“ geplant.

Zeichnung von drei Konstruktionsschritten einer Kirche
Serienpreise der Diasporakapelle für Kirche und Ausstattung, Isometrien des Bauprozesses, 1950
Abb.: Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Bauabteilung Neckarsteinach (Hg.): Gemeindezentren Diasporakapellen

Die ab August 1948 entwickelten Ideen griffen Bartnings Gedanken zur Präfabrikation schlüsselfertiger Bauten auf. Mit einem Preiskatalog bewarb das HEKD die multifunktionalen Typen und das bestellbare „Kirchenzubehör“. Die Finanzierung erfolgte weiterhin über die vom HEKD verwalteten Spenden der internationalen Kirchenorganisationen. Kerngedanke war bei den beiden neuen Typen „Gemeindezentrum“ und „Diasporakapelle“, dass in ihnen das komplette Gemeindeleben stattfinden konnte. Neben der rein sakralen Nutzung sollte den Kirchen auch beim Integrationsprozess der „Diaspora-Gemeinden“ eine große Bedeutung zukommen.

Schwarz-weiß-Foto des Innenraums mit Bänken und Altarbereich
Sakrale (rechts) und profane Nutzung des Gemeindezentrums, 1950 Abb.: Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Bauabteilung Neckarsteinach (Hg.): Gemeindezentren Diasporakapellen

Wertschätzung der Notkirchen – Bewusstsein und Identität

Rund 70 Jahre nach ihrer Erbauung sind fast alle Notkirchen aus dem gleichnamigen Programm erhalten und stehen mittlerweile unter Denkmalschutz. Manche sind nahezu im Original erhalten, andere umgebaut, transloziert, zerstört oder umfunktioniert. Der Erhalt der Notkirchen als bauliches Zeugnis hilft den Gemeinden auch bei der Wahrung der Identität als Notkirchengemeinde. Daneben stehen die Gebäude für die große Hilfsbereitschaft ausländischer Kirchengemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg und gelten als wichtiger Beitrag zu einem Aussöhnungsprozess nach vielen Jahren des Krieges. Die Arbeit in vielen Notkirchengemeinden und wissenschaftlichen Institutionen sowie Initiativen trägt dazu bei, die Wertschätzung für die Notkirchen und das Notkirchenprogramm im kollektiven Bewusstsein zu bewahren.

Tagung „DIE KIRCHE IM DORF LASSEN…?“ Zur Bedeutung von Religiosität und Spiritualität im ländlichen Raum

11. und 12. Juni 2021

Weitere spannende Einblicke zum Thema „Notkirchen“ sowie weitere Beiträge zu Religiosität im ländlichen Raum sind am 11. und 12. Juni digital auf unserer Tagung „DIE KIRCHE IM DORF LASSEN…?“ Zur Bedeutung von Religiosität und Spiritualität im ländlichen Raum zu erfahren. Die Tagung setzt sich mit der Vielfalt religiöser und spiritueller Kulturen im ländlichen Raum auseinander. In den Blick genommen werden dabei sowohl historische als auch aktuelle Entwicklungen. Man denke etwa an die Mehrfachnutzung und Umwidmung sakraler Bauten, unerwartete Zusammenarbeiten und Allianzen zwischen den Konfessionen, die bewusste Ansiedlung religiöser Gemeinschaften, die Bedeutung des „Landjudentums“, die Präsenz neureligiöser und neuheidnischer Bewegungen oder die generelle Bedeutung religiöser Institutionen für die Menschen vor Ort. Diese Aspekte behandelt die 5. Tagung der “Kommission für Religiosität und Spiritualität in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde” im fächerübergreifenden Austausch.

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