Die volkskundliche Forschung hat sich verschiedentlich mit Spielzeug beschäftigt. Dies liegt aber nicht am ausgeprägten Spieltrieb der Forschenden, sondern vor allem an den spannenden Perspektiven, die die Erforschung von Spielzeug liefert. Denn Spiele sind immer auch aussagekräftige Indikatoren für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen oder den Zeitgeist.
Interessant sind dabei vor allem Baukästen, wie der hier gezeigte „Anker-Steinbaukasten“ aus unserer volkskundlichen Sammlung. Besonders beliebt waren diese um die Jahrhundertwende. Sie bestanden aus verschiedensten Steinen, die aus Sand, Kreide und Leinöl gepresst wurden. Die Steine sollten dabei in ihren unterschiedlichen Farben die zeitgenössischen Baustoffe abbilden. Es gab daher rote Steine („Backstein“) hellgelbe Steine („Sandstein“) und blauschwarze Steine („Schiefer“).

Foto: LVR-Freilichtmuseum Kommern, Hans-Theo Gerhards.
Mit diesen verschiedenen Steinen ließen sich die unterschiedlichsten Bauwerke fertigen, entweder nach Vorlagen oder völlig frei. Die Steine wurden dabei nicht verbunden, sondern trugen sich durch ihr Gewicht und ihre exakten Kanten selbst. Auch wenn die Bausätze keine originalgetreuen Nachbildungen realer Gebäude bildeten, so spiegelten sie in ihrer Formgebung und ihren Stilelementen typische Eigenschaften des Bauens um die Jahrhundertwende. Der in Deutschland damals vorherrschende Historismus, gekennzeichnet vor allem von repräsentativen Bauten, spiegelte sich so vielfach im Kleinen auch in den Kinderstuben.
Anknüpfen konnte die Idee des Baukastens an Ideen Friedrich Fröbels, der heute als einer der Vordenker der modernen Pädagogik gilt. Er gab Kindern erstmals sogenannte „Spielgaben“ („Fröbelspiele“), mit denen die Kinder ihre Phantasie ausleben konnten. Die ersten Bauklötze waren dabei vor allem aus Holz gefertigt und sehr robust gearbeitet. Sie waren dadurch aber auch realitätsfern und abstrakt. Dies versuchten die Brüder Otto und Gustav Lilienthal zu ändern.
Bis heute Bekanntheit hat der Name Lilienthal dabei weniger wegen dieses Baukastens, sondern eher wegen ihrer Verdienste als Pionier der Luftfahrt. Denn was die Brüder Lilienthal nicht hatten, war das ökonomische Talent, ihre Ideen auch gewinnbringend umzusetzen. Und so verkauften sie das Rezept für den „Steinteig“ an den Pharmazeuten Friedrich Adolf Richter, der ab 1882 in Rudolstadt in Thüringen mit der Fertigung begann.
„Richters Anker-Steinbaukasten“ etablierte sich immer mehr. Er war, so sah es zumindest die firmeneigene Werbung, „der Kinder liebstes Spiel“. Dies waren vor allem die Kinder der oberen sozialen Schichten, denn derart exakt gearbeitete Steinbaukästen waren ein teures Gut. Zu denen, die regelmäßig mit den Baukästen von Anker spielten, gehörten die Kinder des habsburgischen Königshauses, denn Richter wurde kaiserlicher und königlicher Hoflieferant. Aber nicht nur Kinder „spielten“ mit den Steinen. Großer Beliebtheit erfreuten sie sich auch bei Architekten und Planern, die mit Ihnen erste Modelle ausprobierten.
Friedrich Richter verstarb 1910, sein Unternehmen war zu dem Zeitpunkt ein globales Spielzeugimperium. Über verschiedene Nachfolger wurde der Betrieb noch bis 1963 in der DDR weitergeführt, dann eingestellt. Doch die Idee des Baukastens ist bis heute lebendig. Und seit einigen Jahren werden auch in Rudolstadt wieder Ankersteine gefertigt: In den 1990er-Jahren wurde „Anker“ von einigen begeisterten Anhängern wiedergegründet.
Zum Weiterlesen:
Noell, Matthias: Des Architekten liebstes Spiel: Baukunst aus dem Baukasten, in: Torra-Mattenklott, Caroline (Hrsg.): Spiele / Games (Figurationen: Gender, Literatur, Kultur), Köln u.a. 2004, S. 23-40.
Zschiesche, Arnd; Errichiello, Oliver: Anker Steinbaukasten – Steine für Überflieger, in: Dies. (Hrsg.): Erfolgsgeheimnis Ost, Wiesbaden 2009, S. 105-108.