TEIL 2: Side Shows
„Bizarre Körper“?: Side Shows
Bereits vor ihrem Tod war Julia Pastrana ein Schauobjekt und trat in einer Art Schaustellung auf, die oft als „Side Show“, im amerikanischen Sprachraum auch lange als „Freak Shows“ bezeichnet wurde. Als eine der größten und berühmtesten „Side Shows“ gilt bis heute die Show des US-Amerikaners P.T. Barnum. Auf einer Tournee durch Deutschland um 1900 wurden in einem Führer durch seine Schaustellung, der unter dem Titel „Das Buch der Wunder“ veröffentlicht wurde, einige der Akteur*innen vorgestellt.

Gleich zu Beginn des Einführungstextes wird auf den Umstand hingewiesen, dass sie in den USA auch als „Freaks“ bezeichnet würden, die Akteur*innen jedoch eine Abneigung gegen das Wort hätten. Passender sei die Bezeichnung „menschliche Curiositäten“.[1]
Die Beschreibungen der Darsteller*innen finden sich unter der Überschrift „Die seltsamsten menschlichen Geschöpfe der Erde, mit denselben Empfindungen und Leidenschaften wie andere Menschen“. Ein Bewusstsein für diese Tatsache scheint beim Publikum nicht als selbstverständlich vorausgesetzt worden zu sein; nicht umsonst sahen die Veranstalter*innen sich berufen, sie explizit daran zu erinnern. Während der Shows befanden sich die Akteur*innen auf einem Podium und traten für ihren Part nach vorne, während „ihre Eigenthümlichkeiten und Darstellungen von Vorlesern beschrieben“ wurden.[2]
In Barnum’s Führer werden drei Kategorien von Darstellenden unterschieden: „Natur-Abnormitäten“, „die, welche Kunststücke seltsamer Art ausführen, die ihnen nur wegen ihrer grossen Verschiedenheit von den gewöhnlichen Menschen möglich sind“ und „die, welche nur aussergewöhnlich geschickte Vorstellungen zu geben vermögen“.
Die erste Gruppe der „Natur-Abnormitäten“ umfasst Menschen mit auffälligen, körperlichen häufig krankheitsbedingten Besonderheiten wie den vermutlich an Hypertrichose leidende „Pudelmenschen“ Jo-jo, die kleinwüchsige „Queen Mab“ oder die „Japanerin ohne Hände“ Oguri Kiba. Im Fokus der Beschreibungen steht stets das Exotische und das Ungewöhnliche, jedoch fällt auf, dass keine*r der Akteur*innen negativ konnotiert und als „abstoßend“, „gruselig“ oder „hässlich“ beschrieben wurde.
Neben der Beschreibung ihrer Fähigkeiten und des besonderen Aussehens standen vor allem kuriose und exotische Herkunftsgeschichten im Fokus. Auch die Bedeutung der Individuen für die Wissenschaft und die Anthropologie spielen eine große Rolle. Sogenannte „Haarmenschen“ wie Jo-Jo wurden häufig als „missing link“, also als evolutionäre Zwischenstufe zwischen Affe und Mensch, beworben. Lalloo, dessen parasitärer Zwilling aus seiner Bauchhöhle wuchs, wird als äußerst attraktiver Mann beschrieben, der großen Wert für die Forschung habe. Die Art, wie der parasitäre Zwilling in seinem Blutkreislauf eingebettet war, bildet einen zentralen Punkt seines Vorstellungstextes.

gemeinfrei
Die zweite Gruppe der Darstellenden umfasst hauptsächlich Personen, deren körperliche Besonderheiten so unauffällig sind, dass sie auf der Straße nicht auffallen würden: Hierzu zählten beispielsweise Billy Wells, der auf seinem Kopf Steine mit einem Schmiedehammer zerschlagen ließ, der Kettensprenger Junger Hermann, der seinen Brustkorb stark ausdehnen konnte oder der „Alles-Esser“ Alfonso. Bei ihnen standen eher die meist spektakulären Geschichten im Vordergrund, die ihre besonderen Fähigkeiten erklärten und herleiteten. Auch medizinische Erklärungsansätze spielen eine zentrale Rolle.
Die dritte Gruppe setzt sich vor allem aus Künstler*innen zusammen, die Fähigkeiten präsentierten, die man erlernen konnte: Mademoiselle Amy, die Degenschluckerin, Sol Stone, der Blitzrechner, die japanische Zauberin K. Shimakura oder Belaros, der heißes Eisen und Glas berühren konnte. Die Darstellenden werden hier nicht als grauenhafte „Laune der Natur“ vorgestellt. Der Schau wird ein wissenschaftlicher, wenn auch pseudo-wissenschaftlicher, Rahmen gegeben und der Lerneffekt in der öffentlichen Kommunikation über den Schauder gestellt.[3]
Die häufigste Akteur*innen-Gruppe war die der Kleinwüchsigen und die sogenannten „Kolossalmenschen“, wie beispielsweise „die dickste Frau der Welt“.

Postkarte: Stadtmuseum Düren
Kleinwüchsige wurden häufig mit Sagengestalten wie Zwerge oder Feen in Verbindung gesetzt. Oft traten sie zusammen mit den sogenannten „Riesen“ auf, um über den Kontrast die Wirkung ihrer jeweiligen Körpergröße auf das Publikum zu steigern.[4] Umherziehende sogenannte „Liliputaner-Truppen“ führten Programme aus „Gesang, kleinen Spielszenen, humoristischen Vorträgen, Instrumentalmusik und Tänzen – letztere oft ausgeführt von einem der zahlreichen ‚kleinsten Ehepaare‘“ vor. „Auch Zauberei und artistische Darbietungen gehörten vielfach zum Repertoire.“[5]
Andere Akteur*innen waren für die Betreibenden der Schaustellungen seltener und schwieriger zu engagieren oder zu erwerben. Eine besondere Faszination ging wohl auch von den sogenannten „Haarmenschen“, wie Jo-Jo und Julia Pastrana aus. Ihre exotischen, oftmals erfundenen Herkunftsgeschichten aus fernen Ländern und dem Dschungel mystifizierten sie und brachten sie als möglichen „missing link“ in der Evolution eng mit den Tieren, denen sie vermeintlich ähnelten, in Verbindung und entmenschlichen sie in extremer Weise.[6] Dies betraf ebenfalls Menschen mit Knochen- und Hautmissbildungen, die unter anderem als „Hummermenschen“, „Krokodil-“ oder „Elefantenmenschen“ vermarktet wurden. Darüber hinaus fanden sich neben besonders dicken Menschen, auch besonders dünne Menschen, Menschen mit Albinismus oder aufgrund von Krankheiten oder Unfällen an fehlenden Extremitäten leidende Menschen in den Schaubuden. Sehr selten und dadurch ein garantierter Besuchermagnet waren Siamesische Zwillinge, Menschen mit parasitären Zwillingen oder zusätzlichen Extremitäten. Auch tierische Präparate dieser Art waren häufig vorkommende Schauobjekte in den Panoptiken.[7]
Auch selbst herbeigeführte körperliche Besonderheiten faszinierten. Hierzu zählten tätowierte Menschen, die häufig spektakuläre Kontakte zu „Indianerstämmen“ erfahren haben wollten, wobei die Motive der Tätowierungen oft wenig gemeinsam hatten mit der Semiotik der amerikanischen Indigenen.[8] Neben der Exotik der Hautbemalung ist auch hier sowohl bei Männern als auch bei Frauen die Erotik der nackten Haut ein institutionalisierter Tabubruch.

Foto: Charles Eisenmann
Für viele Akteur*innen war die Arbeit auf dem Jahrmarkt, beim Zirkus oder in den stationären Vergnügungsparks eine Möglichkeit, Geld zu verdienen und mit ihren Fähigkeiten und Besonderheiten selbstbestimmt zu leben. Nicht wenige wurden jedoch von ihren Familien verkauft oder hatten aufgrund ihrer körperlichen oder kognitiven Beschaffenheiten außerhalb dieser Parallelgesellschaft keine Möglichkeiten, sich finanziell und sozial abzusichern.[9]
Die Zurschaustellung von Menschlichkeit war stets in verschiedenen Formen allgegenwärtig und stieß auf großes Interesse. „Bizarre Körper“ oder menschliche Überreste waren nicht nur auf Jahrmärkten, in Zirkussen und in Vergnügungsvierteln beliebte Anschauungsobjekte. Die Schaustellenden griffen den Zeitgeist auf und ließen sich durch die Visualisierungen, wie sie in Medizin und Anthropologie zu finden waren, inspirieren. Die Objekte, die in den Panoptiken gezeigt wurden, waren auch in den Museen, Kliniken und forensischen Instituten ihrer Zeit zu sehen. Die „Hottentotten Venus“, die südafrikanische Khoikhoi Sarah „Saartjie“ Baartmann, reiste zwischen 1810 und 1815 mit ihrem Impresario durch Europa und gelangte aufgrund ihres ausgeprägten Fettsteißes zu großer Bekanntheit. Nach ihrem Tod wurde ein bemalter Gipsabdruck ihres Körpers angefertigt, sowie ihr Skelett, Gehirn und Geschlechtsteil für die Rassenlehre konserviert. Der Gipsabdruck sowie das Skelett wurden daraufhin im Muséum national d’histoire naturelle, heute das Musée de l’Homme, in Paris ausgestellt.[10] Das Museum ist bis heute im Besitz des Gipsabdrucks.[11]
Der Niedergang von Panopitken und Side Shows
Mit dem Aufkommen von Film und Rundfunk begann der Niedergang der Panoptiken und Side Shows. Der Film ersetzte die aufwändigen Szenarien der Panoptiken, gleichzeitig standen sie thematisch im Zentrum einiger früher Filme.[12] Auch der Anblick von Verletzungen und versehrten Körpern verlor spätestens mit dem Ende des 1. Weltkriegs seinen Reiz als sie durch die zurückkehrenden Soldaten zum Alltag und zur gelebten Realität vieler Menschen wurden. In den 1930er-Jahren öffneten sich viele anatomische Museen noch stärker der Rassenkunde.[13] Schaustellungen, „die das gesunde Volksempfinden verletz[t]en” oder „den Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates widerspr[a]chen” wurden unterbunden:
„Hierzu gehören einmal Schaustellungen von ekelerregenden menschlichen Abnormitäten und erbkranken Krüppeln, z.B. Fischmenschen, Krebsmenschen, Vogelmenschen, Starrmenschen, Tiermenschen (Heufresser) u.ä. Soweit es der geistige oder körperliche Gesundheitszustand erfordert, ist die Unterbringung der zur Schau gestellten Personen in Heil- oder Pflegeanstalten nach den hierfür geltenden Vorschriften vorgesehen.” [14]
Überlebt haben bis in die Gegenwart vor allem „Liliput-Schauen“. Bis 1996 blieb die „Liliputaner-Stadt“ im Holiday-Park in der Pfalz eine Attraktion. Im „Butterfly Park“ im chinesischen Kumning, in der Provinz Yunnan gibt es seit 2009 das „Dwarf Empire“ (Zwergenreich), in dem kleinwüchsige Menschen täglich Shows für die Parkbesucher*innen vorführen. Einige der klassischen Vorführungen beeinflussen Varieté- und Zirkuskünstler bis heute. Die Faszination für die Side Shows und Kuriositäten aller Art ist geblieben.
Literatur
Dering, Florian: Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nördlingen 1986.
Dean, Clarence L.: Das Buch der Wunder in Barnum & Bailey’s größter Schaustellung der Erde mit vollen Beschreibungen der menschlichen Kuriositäten und seltenen Thiere, Berlin 1900.
Faber Monika, Andrea Niehaus und Peer-Olaf Richter: Geschminkte Leichen. Vorgeschichte(n) eines Fotobuchs, in: Herbert List. Panoptikum. Kommentarband, hrsg. von Monika Faber, Andreas Niehaus und Peer-Olaf Richter, Leipzig 2022, S. 6-17.
Mattl, Siegfried: Körperspektakel. Ein anatomisch-pathologisches und ethnologisches Museum im fin-de-siècle Wien, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 4. Jg., Heft 2, 2004, S. 46-62.
Nagel, Stefan: Schaubuden. Geschichte und Erscheinungsformen, Münster 2000-2020, URL: http://www.schaubuden.de.
Schwarz, Werner Michael und Susanne Winkler: Gespenster der Moderne. Präuscher’s Panoptikum und Anatomisches Museum im Wiener Prater, in: Herbert List. Panoptikum. Kommentarband, hrsg. von Monika Faber, Andreas Niehaus und Peer-Olaf Richter, Leipzig 2022, S. 82-93.
[1] Dean, Clarence L..: Das Buch der Wunder in Barnum & Bailey’s größter Schaustellung der Erde mit vollen Beschreibungen der menschlichen Kuriositäten und seltenen Thiere, Berlin 1900, S. 1.
[2] Ebd.
[3] Vgl. auch Mattl (2004), S. 61.
[4] Vgl. ebd. S. 128.
[5] Ebd. S. 127.
[6] Vgl. ebd. S. 133.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. ebd. S. 140.
[9] Vgl. auch ebd. S. 138.
[10] Vgl. Mattl (2004), S. 61.
[11] Der Gipsabdruck wurde bis 1976 ausgestellt und ist für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. 2002 wurde Sarah Baartmann in Südafrika mit einem Staatsbegräbnis bestattet.
[12] Vgl. Vgl. Faber Monika, Andrea Niehaus und Peer-Olaf Richter: Geschminkte Leichen. Vorgeschichte(n) eines Fotobuchs, in: Herbert List. Panoptikum. Kommentarband, hrsg. von ders., Leipzig 2022, S. 12.
[13] Vgl. Schwarz/Winkler (2022), S. 84f.
[14] Berliner 8-Uhr-Blatt vom 3.2.1938, zitiert im Programm der Wiener Festwochen 1981, S. 9, zitiert nach Nagel (2008), S. 139.
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